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Sport-Welt, Samstag, 24. Mai 1975



Südamerikanisches von einem Jubiläum

Die deutsche Amateurreiterin Hannelore Rabus war bei einem Gastspiel in São Paulo Vertreterin der Bundesrepublik in einem internationalen Amazonen-Rennen. Auf der bedeutenden brasilianischen Rennbahn wurde ein nicht alltägliches Jubiläum gefeiert. Die nachfolgenden Ausführungen geben ein Stimmungsbild vom Rennsport in Brasilien.

Das ist phantastisch. Ein Gewirr von Hunderten von Pferden, die anscheinend in wildem Durcheinander auf der Rennbahn von São Paulo gearbeitet werden. Ohne Sattel! Selbst beim schärfsten Galopp sitzen die Reiter nur auf einem Tuch oder einer Schaumgummidecke, die von einem Gurt gehalten wird. Die Pferde sind erstaunlich ruhig. Selbst wenn sie von einer der drei inneren Sandbahnen kommen und die Grasbahn überqueren, sehen sie die galoppierenden Pferde sehr gelassen an sich vorbeibrausen. An all den Tagen habe ich kein loses Pferd gesehen. Auch wenn die wenigen unruhigen Tiere einmal steigen, sitzen die Reiter "wie die Kletten". Man muß ihre Gelassenheit und die freie Schönheit der Pferde beim Steigen direkt bewundern.
Mehr als 3500 Pferde werden auf dieser Bahn von 6 Uhr bis 9 Uhr morgens trainiert, wobei das ständige Kommen und Gehen beeindruckend und verwirrend zugleich ist. Die Jockeys und Arbeitsreiter warten in einem Ring, bis sie von einem Trainer gebeten werden, einen Ritt zu übernehmen. So kann es vorkommen, daß sie an manchen Tagen nur zweimal reiten, an anderen wiederum bis zu elfmal. Ein Stallangestellter führt das Pferd herbei, der Reiter schwingt sich mit einem Satz hinauf, galoppiert der Order folgend eine oder anderthalb Runden, wobei er sein Pferd über die letzten 800 m oder 700 m richtig treten läßt. Dann übernimmt der Stallangestellte wieder das Tier, führt es in eine offene, betonierte Box, die in eine Brausekabine verwandelt wurde, spritzt es von oben bis unten ab, reibt mit einem Tuch nach und führt es dann auf dem Weg zum Stalldorf am anderen Ende der Rennbahn trocken. Auffallend auch, daß fast alle Pferde unter der Trense Kopfkappen aus dünnem Leinen tragen.


Während meines Aufenthalts sind verschiedene Pferde zu sehen, die mit Sattel geritten werden:
Ausländer sind auf der Bahn. Aus England, Frankreich, Irland, Japan, Schweden, den USA und aus mehreren Staaten Südamerikas. Anläßlich seines 100jährigen Bestehens hat der Jockey Club von São Paulo Reiter und Reiterinnen aus elf Ländern eingeladen, um seinen Großen Preis und den Großen Preis des Präsidenten der Republik in Anwesenheit des brasilianischen Staatspräsidenten würdig zu feiern. Es ist ein großartiges Fest, das bereits Wochen vorher in der Presse, im Fernsehen und Radio unvorstellbar ausführlich behandelt wird. Jeden Tag gibt es in den verschiedenen Zeitungen Titelbilder und Interviews. wobei der Phantasie der Journalisten keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen. Ein Reklame-Etat von 460.000 DM für dieses Jubiläumsmeeting (ein Viertel des Jahreshaushalts) trägt dazu bei, daß am Sonntag, dem Höhepunkt der Veranstaltungen, rund 60000 Zuschauer auf der Bahn gezählt werden. Nicht so viele, wie die Verantwortlichen erwartet haben, aber der Umsatz von umgerechnet rund 2,3 Millionen DM liegt mit fast 1 Million DM über dem Tagesumsatz eines normalen Renntages mit neun bis zehn Rennen.

Hindernisrennen kennt man in Brasilien nicht. Auch Amateurrennen sind nahezu unbekannt. Es gibt weder weibliche Stallangestellte noch weibliche Arbeitsreiter oder Jockeys in São Paulo. Suzana Davis, die brasilianische Teilnehmerin an dem internationalen Damenrennen, reitet seit vier Jahren mit viel Erfolg und mehr als 180 Siegen als Professional in Porto Alegre im Süden Brasiliens. Ihre 90 männlichen Kollegen von São Paulo arbeiten für 80 Trainer, die jeweils nicht mehr als 60 Pferde in Training haben dürfen. Diese Bestimmung stammt noch aus der Zeit, als der Pferdebestand weit von der heutigen Zahl entfernt war. M. Signoretti, der als erfolgreichster Trainer in den letzten zehn Jahren sieben Mal das Championat gewann und 1970 mit 100 Jahressiegen einen neuen Rekord aufstellte, beschäftigt in seinem vollbesetzten Stall 32 Angestellte. Auswärtige Rennplätze wie Rio de Janeiro, die zweitgrößte Trainingszentrale Brasiliens, beschickt er nur zu den ganz bedeutenden Ereignissen. Die jährlichen Gesamtrennpreise von rund 30 Millionen DM in São Paulo und 12 Prozent Traineranteil sind ihm ausreichende Möglichkeit.

Auch in vielen anderen Beziehungen sind die Gegebenheiten des Paulistanischen Rennvereins bestaunenswert:
- Ein in der Stadtmitte gelegenes Clubhaus, das in seiner kostbaren, eleganten Einrichtung der Beitrittssumme von 7000 DM zu entsprechen scheint und den höchsten Ansprüchen seiner 9000 Mitglieder gerecht wird.
- Kindergarten, Volks- und Realschule, in denen die Kinder der Profis und Angestellten frei, die der Mitglieder gegen Schulgeld unterrichtet werden.
- Eine Schule für Jockeyauszubildende mit angeschlossenem Wohnheim, in dem vor allem die Bestimmung über einen nur einmaligen wöchentlichen Ausgang bis 22 Uhr auf einigen Widerstand stößt. Eine andere Regelung besagt, daß der Jugendliche, der sich nach einem Jahr als nicht geeignet für den Jockeyberuf erweist, die Schule verlassen muß. Das festgesetzte Reitgeld für Ausgelernte beträgt übrigens nur 25 Cr$ (etwa 8 DM), jedoch erhalten sie statt der in Deutschland üblichen 5 Prozent hier 10 Prozent der gewonnenen Geldpreise.
- Ein Hospital, in dem sich auch gut eingerichtete Saunaräume befinden. Hier ist vielleicht erwähnenswert, daß während der Rennen ein eigener Krankenwagen auf der Innenbahn hinter dem Feld herfährt, um bei eventuellen Unfällen sofort zur Stelle zu sein.
- Natürlich Elektronentoto, der in ganz Amerika bereits selbstverständlich zu sein scheint.
- Verschiedene Restaurants, die nicht verpachtet sind, sondern in eigener Regie geführt werden.
- Ein prachtvolles Gestüt mit sieben eigenen Deckhengsten, zu denen in einer Decksaison bis zu 200 Stuten der verschiedenen Züchter kommen.

Das Gestüt. das sich etwa 120 km von São Paulo entfernt landeinwärts bei Campinas befindet, steht unter der tierärztlichen Leitung von Dr. Ulrich Reiner, der in Hannover promovierte. Voller Stolz führt er uns durch seine Apotheken, Labors und den Operationssaal, die er nach dem Muster der tierärztlichen Hochschule eingerichtet hat.

Von den in Brasilien aufgestellten Deckhengsten kommen viele aus Frankreich, England und Argentinien. Deutsche Hengste waren hier bisher nicht sehr erfolgreich, auch wenn Wilderer und Nisos Produkte auf der Bahn hatten und Takt v. Gundomar als Vater eines Siegers im Großen Preis von São Paulo in Erscheinung trat.

Im Staat São Paulo, der ungefähr die Größe der Bundesrepublik Deutschland hat. werden bei einem Bestand von 4000 Mutterstuten 2500 Fohlen jährlich registriert. Da bekannterweise die Decksaison in den Ländern südlich des Äquators erst in der zweiten Jahreshälfte beginnt, entdecken wir voller Verwunderung einige Stuten mit Fohlen auf den Koppeln. Es handelt sich dabei um frisch aus England importierte Stuten, deren quicklebendige Nachkommen, obwohl erst wenige Monate alt, bereits im Juli zu Jährlingen erklärt werden müssen. Um den Rückstand zu den programmgemäß im südlichen Frühling geborenen Altersgenossen wettzumachen, sieht das brasilianische Rennsystem eine Gewichtserlaubnis für diese eingeführten Pferde vor.

Das Gestüt des Jockey Clubs versucht sehr aktiv, die Zucht des einheimischen, ziemlich kleinen Gebrauchspferdes zu verbessern. Jedes Jahr werden deshalb den Züchtern, die mindestens zehn Mutterstuten haben, Vollbluthengste geschenkt, um damit auf weitere Sicht ein größeres Pferd mit der bereits vorhandenen Ausdauer und Härte in Brasilien heranzuziehen.

Der erste Renntag, den ich in São Paulo miterlebe, findet an einem Donnerstagabend unter Flutlicht statt. Dabei hat die Bahn mit ihrem sehr fairen Linkskurs einen Umfang von 2000 m, was eigentlich gar keine Flutlichtanlage erwarten läßt. Der Start des ersten Rennens ist um 19.45 Uhr, so daß bei einem Abstand von 30 Minuten das neunte und letzte Rennen erst um 23.45 Uhr gestartet werden kann - d.h. wenn durch den Andrang an den Wettschaltern keine Verspätungen eintreten, was jedoch häufig der Fall ist. Alle Rennen an diesem Tag werden auf Sand und über Distanzen von 1300 m bis 1600 m gelaufen. Sie sind mit 8 bis 13 Startern gut besetzt und werden vom Start weg sehr flott gelaufen, wodurch dann die von Europa her gewohnte Endgeschwindigkeit vermißt werden muß.

Eine große Besonderheit ist für uns das Galoppieren vor dem Rennen. Da werden die Pferde nicht langsam zum Start gecantert und nach einigen Runden an ihren Startplatz geführt, sondern sie werden bereits 25 Minuten vor ihrem Rennen nach einer Parade vor den Tribünen etwa 400 m weit recht frei galoppiert. Danach kehren sie für etwa 20 Minuten in ihre Sattelboxen zurück, während sich die Reiter in einem speziellen Raum aufhalten müssen. Wenn dann die Teilnehmer endgültig herausgeklingelt werden, gehen sie im Schritt zu den Startständen.


Als gute Einrichtung empfinde ich es, daß im großen Waagegebäude mehrere Waagen aufgestellt sind. Zwei sind nur für das Vorwiegen bestimmt, während die dritte beim offiziellen Abwieger erst dann betreten werden darf, wenn das Gewicht stimmt. Dagegen will mir der Sinn eines nochmaligen Wiegens durch den Arzt und eine Blutdruckmessung vor dem Rennen nicht einleuchten, besonders wenn da statt des tatsächlichen Gewichts von 55,5 kg vom Arzt plötzlich 53,5 kg notiert werden.

Um noch kurz auf den Ausgang der internationalen Einladungsrennen, die wie die Großen Preise auf Gras gelaufen wurden, zu kommen: Beide wurden von chilenischen Reitern gewonnen. Bei den Damen wurde die schwedische Meisterin der Amazonen, Britta Lundgren, Zweite; bei den Herren holte sich der auch in Deutschland bekannte Schotte J. Wilson den Ehrenplatz. Beide Rennen waren mit umgerechnet 12500 DM für den Sieger dotiert. Sogar der Fünftplacierte erhielt noch 625 DM, womit sich "meine" Stute den Hafer für zwei Monate verdiente.

Ein interessantes, voll ausgefülltes Programm machte diese großzügige Einladung des Jockey Clubs von São Paulo zu einem echten Erlebnis für alle Teilnehmer, wobei sicher auch die Absicht, den brasilianischen Rennsport den europäischen Ländern etwas näherzubringen, gelungen sein sollte.
(H. Rabus)



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